Für Neugierige

LESEPROBE

 
Ich hatte panische Angst vor meiner Begegnung mit Sonja.

Meine Beine wurden schwerer, meine Schritte langsamer. Wenn nun weder ein Missverständnis noch ein Komplott vorlag? Wenn ich keine Gegner hatte? Wenn Roduner und Theo mich wirklich nicht kannten? Wenn der Postomat meine Karte zu Recht verschluckt hatte? Wenn Arthur Renner tatsächlich am 28. Februar 1994 verstorben war? Ich war wie benommen. Dachte man so wie ich jetzt, wenn man nicht mehr wusste, wer man war? Hatte ich mir vorgestern etwa nur eingebildet, mit Sonja zu telefonieren? Mit wem hatte ich gesprochen, wenn nicht mit ihr? Hatte ich überhaupt telefoniert?

Ich fand mich unversehens vor dem Schaufenster eines Uhrenfachgeschäfts. Auf einem Tablar aus rauchigem Glas ruhten fette Chronometer mit schwarzen und dunkelblauen Zifferblättern, die weissen Minutenstriche sahen aus wie spitze Zähnchen in runden, lautlos geöffneten Mündern. Du bist nicht Arthur Renner, mach dir doch nichts vor. Du bist nicht Arthur Renner, skandierten sie im Chor. Wie hypnotisiert liess ich es zu, dass sie eine Art Bannstrahl um mich warfen, in dem alles stillstand. Mich schauderte ob soviel anklagender Feindseligkeit. Wie gefrorene Zeit, das war es. Sie spien gefrorene Zeit nach mir, um mir klarzumachen, dass es keine Rolle spielte, ob ich lebte oder gestorben war, dass die Zeit für mich aufgehört hatte, dass es mich in der Zeit nicht mehr gab. Wer immer ich sein mochte. Und wer immer sie sein mochten.

Endlich gelang es mir, mich von dem unerbetenen Zwang zu lösen. Dankbar nahm ich die Frühlingssonne wahr, die sich auf der anderen Strassenseite im Fenster eines Tabakwarenladens spiegelte. Aber die Ungewissheit plagte mich weiter. Man kennt das ja, aus eigenem Erleben oder vom Hörensagen: Da kommt so ein Irrer daher und will uns weismachen, er sei Julius Cäsar und habe in der Schlacht von Bibrakte gekämpft. Alle wissen, das stimmt nicht, er ist harmlos, nur eben – er ist nicht Julius Cäsar, und wer er wirklich ist, weiss niemand. So – und jetzt? Bin ich nun Arthur Renner, oder Julius Cäsar, oder Rumpelstilzchen?

Ich stand bei der Einmündung einer kleinen Gasse, die den Karmeliterplatz im Zentrum der Altstadt unten mit der noblen Einkaufsstrasse verband. Im Eckgebäude gegenüber residierte die Unionsbank. Ich hörte, wie die Strassenbahnen quietschten, wenn sie vor dem Wartehäuschen beim grossen Platz abgebremst wurden. Vielleicht lohnte sich ein zweiter Versuch. Bei der Unionsbank verfügte ich über ein Sparkonto. Es gelang mir, meine Selbstzweifel abzuschütteln. Ich betrat die Bank, entschlossen zu kämpfen, um meine Identität, um mein Geld, um alles.

Als kleiner Junge, im Alter von elf, hatte ich Spott geerntet, manchmal Püffe einstecken müssen, wenn ich mich nicht traute, bei den Raubzügen meiner Kameraden in fremde Gärten mitzutun. Lass dir nichts gefallen, gib zurück, versuchte mein Vater mich aufzustacheln. Als es nichts fruchtete, schickte er mich in einen Jiu-Jitsu-Kurs, in der Hoffnung, die fernöstliche Kunst der Selbstverteidigung steigere mein Selbstvertrauen und meine Widerstandsbereitschaft. Aber meine Ausbildung zur zähen Kampfmaschine endete abrupt nach nur drei Monaten. Ein anderer Elfjähriger wurde eines Abends nach dem Training auf dem Weg nach Hause von einem Unhold entführt, missbraucht und bestialisch umgebracht. Mein Vater erklärte die Jiu-Jitsu-Ausbildung kurzerhand für beendet. Was er nicht erkannte, und was ich nicht auszusprechen wagte, war, dass der Kampfsport mir Freude und tiefe Befriedigung bereitete.