DAS ANDERE BUCH

Obwohl dies meine Homepage ist, will ich mich darin nicht nur mit mir beschäftigen. Es gibt so viele tolle Bücher anderer Autoren. Ich werde deshalb an dieser Stelle von Zeit zu Zeit ein Werk vorstellen, das mich beeindruckt hat. Dabei nehme ich mir die Freiheit, mich – anders als professionelle Rezensenten – mit irgendwelchen Titeln und nicht bloß mit Neuerscheinungen auseinander zu setzen.

DAS EVANGELIUM NACH PILATUS

Von Eric-Emmanuel Schmitt

Eric-Emmanuel Schmitt hat das fünfte Evangelium geschrieben. Unbekümmert setzt er in Das Evangelium nach Pilatus den grob geschnitzten römischen Statthalter Jerusalems an die Seite der vier anerkannten Evangelisten. Sein Pilatus möchte gerecht sein, aber die Gegner von Jesus – der im Buch Jeschua genannt wird -, Pharisäer, Zeloten und Hohepriester, setzen sich durch und erwirken nach dem bekannten Verrat durch Judas dessen Festnahme. 

In einem langen Prolog lässt Schmitt Jeschua seine Geschichte in Ichform erzählen. Sie beginnt im Garten Gethsemane mit dem Satz «In ein paar Stunden kommen sie mich holen.» Dann reminisziert Jeschua seine Kindheit und sein ganzes kurzes Leben. Er war ein Träumer, ein glückliches Kind, verwechselte sich mit Gott und erfuhr mit dem Größerwerden Verletzungen, Gewalt, Kompromisse und Enttäuschungen. Er wollte Zimmermann werden wie sein Vater, obwohl dieser lieber einen Rabbi in ihm gesehen hätte.

Es braucht viele Stationen, bis Jeschua glaubt, dass er Gottes Sohn ist. In seiner Schreinerwerkstatt in Nazareth tröstet er die Dorfbewohner und hilft ihnen über Ärger und Kummer hinweg; ein junger Rabbi beschimpft ihn deswegen. Seine Mutter erzählt ihm, sein Vetter Johanaan solle ein Seher sein. Er wasche am Jordan die Menschen von ihren Sünden rein, indem er ihnen den Kopf unters Wasser tauche; deshalb nenne man ihn Johanaan der Taucher – Johannes der Täufer. Jeschua sucht ihn auf; Johanaan erkennt in ihm sofort den von Gott Erwählten.

Mit eleganter Feder nimmt Schmitt den Leser mit auf den Leidensweg von Jeschua. Bald sind die zwölf Jünger um ihn versammelt, man lebt von Almosen; Jeschua vollbringt Wunder  und zweifelt dennoch. Judas – im Buch Jehuda genannt – ist sein Lieblingsjünger; er versucht ihm klar zu machen, dass er wahrhaftig Gottes Sohn, der Messias, sei. Schliesslich fügt sich Jeschua und erklärt: «Ich gehe die Wette ein, dass ich sein Sohn bin.» Jehuda sagt ihm Erniedrigung, Folter und Tod voraus, aber auch die Auferstehung. «Du wirst ein paar Tage tot sein, Jeschua, drei Tage, dann wirst du ins Leben zurückkehren.»
Zum Passahfest begibt sich Jeschua mit seinen Jüngern nach Jerusalem. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Beim Abendmahl tröstet er die Jünger. Der Verrat Jehudas erfährt eine unerwartete Deutung. Jeschua hat Angst. Er zweifelt. Er möchte sich retten.

Pilatus erzählt seine Geschichte in einer Serie von Briefen an seinen Bruder Titus in Rom. Er hasst Jerusalem, und ganz besonders Jerusalem zu Ostern. Sein Ungemach beginnt mit der Meldung eines Zenturions: Die Leiche ist weg, die Leiche des Magiers aus Nazareth. Als Statthalter Roms ließ er die Anhänger Jeschuas unterwandern, weil er politische Agitation befürchtete. Aber er stellt nur fest, dass es der Magier fertig gebracht hatte, alle gegen sich aufzubringen: die Zeloten, die Pharisäer und die Hohepriester des Tempels. Pilatus wirft sich vor, mit der Hinrichtung Jeschuas habe er nur den Gegnern Roms, den Hohepriestern, in die Hände gespielt. Seine Frau Claudia hat ihm deswegen während des ganzen Prozesses Vorwürfe gemacht. Auf ihren Wunsch versucht Pilatus, Jeschua die Hinrichtung zu ersparen, aber erfolglos.

Die für die Schilderung vom Autor gewählte Briefform erfordert eine gewisse Disziplin. Schmitt opfert sie gelegentlich im Interesse einer farbigen, lebensnahen Darstellung des gewaltigen Stoffes. Auf die Mitteilung seines Zenturions hin eilt Pilatus zur leeren Grabkammer. Die Wächter haben nicht gesehen, wie der Leichnam verschwunden ist. Vor Pilatus war schon Kaiphas, der Hohepriester, beim leeren Grab. Nun beginnt eine groß angelegte Suchaktion. Aber allmählich sickern erschreckende Nachrichten durch: Mehrere Personen haben den auferstandenen Jeschua gesehen. Die Verwirrung wächst; sind die Leute einem Trugbild erlegen, einem Doppelgänger, ist Joschua tatsächlich auferstanden, ist das Ganze ein übler Scherz?

Pilatus und Claudia unterhalten sich mit dem Rechtsgelehrten Nikodemus. Dieser zitiert eine Ankündigung Jeschuas an seine Jünger beim Abendmahl: «Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen nach Galiläa.» Deshalb erklärt auch Nikodemus, sich auf die Reise nach Nazareth zu machen. Am nächsten Tag ist Claudia verschwunden. Sie lässt Pilatus zwei Briefe zukommen. «Komm schnell», schreibt sie, «ich erwarte Dich auf der Straße nach Nazareth.»

Nach langem Zweifeln und einem Streitgespräch mit dem Philosophen Kraterios, der sich stets unappetitlich benimmt, macht sich Pilatus auf nach Nazareth, um Claudia zu suchen. Jetzt ist er nur noch ein Wanderer unter vielen. Die Suche nach Claudia wird ihm zur ganz persönlichen Suche nach dem Glauben, und er fängt an, sich mit den Botschaften Jeschuas auseinander zu setzen. Als ihm die Jünger von ihrer Begegnung mit Jeschua, seinen letzten Worten und seiner Himmelfahrt berichten, begreift Pilatus, dass das Unbegreifliche existiert.
Eric-Emmanuel Schmitt legt seinen Lesern sprachlich einen geschliffenen Edelstein vor, inhaltlich einen Thriller und psychologisch einen Spießrutenlauf durch die Tiefen eines von Zweifeln zerrissenen Geistes. Seine Personen zeichnet er mit viel Liebe zum Detail, und jeder Brief an Titus atmet die Atmosphäre der Anfänge des Christentums. Man sieht Schmitt die ausführlichen Schilderungen der Schweinigeleien des Kraterios nach, obwohl sie nichts Notwendiges zur Geschichte beitragen. Das Werk ist in gewissem Sinne ein antireligiöses Buch; Schmitt will den Leser zu nichts überreden, und Pilatus zweifelt bis zur letzten Seite: «Ich habe nichts gesehen, ich habe versagt, ich bin zu spät gekommen. Wenn ich glauben wollte, müsste ich zuerst den Zeugnissen der anderen glauben.»


Eric-Emmanuel Schmitt: Das Evangelium nach Pilatus, aus dem Französischen von Brigitte Grosse, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a.M., Oktober 2007